Weiße Nächte von Leningrad
Die für mich zentrale Denkrichtung ist die des Existenzialismus. Die unmittelbare Lebenserfahrung ist es, die mir einen Zugang zur Welt bietet. Die unauslotbare Strahlkraft des Lebens und der menschlichen Erfahrung. Es dreht sich alles um die Erfahrung des Lebens, das wir als Menschen durchleben.
Es geht um das Leben, das einem niemand nehmen kann. Niemand kann mir meine Erfahrung nehmen, meine Erlebnisse. Das ist, was ich mit der Zeit, die mir gegeben ist, tun will: Ich will leben. Erleben. Fühlen. Nicht Angst haben etwas zu verpassen.
Die Welt ist da draußen, komplex, groß und dynamisch. Vielschichtig und Facettenreich. Ohne klare Grenzen. Ich durchwandere diese Welt als Mensch. Vorwärts tastend mit meinen Sinnen. In den jeweils entsprechenden Phasen die ein jedes menschliche Lebewesen durchläuft, von der Jugend bis ins Alter.
Dabei gibt es kein "Es kommt darauf an Dieses oder Jenes zu tun." Das sind alles Trugschlüsse, jeder der solche anführt, versucht sich selbst abzusichern. Die unauslotbare Strahlkraft der lebendigen Erfahrung und menschlichen Kommunikation steht im Mittelpunkt: das, was uns lebendige, mit Bewusstsein und Leiblichkeit ausgestatteten Wesen ausmacht, die wir sind. Unauslotbar bedeutet, dass die Wirklichkeit tiefer ist als wir sie erfahren können. Wir versuchen die Tiefe des Meeresgrundes zu messen aber unsere Lotschnur ist nicht lang genug. Wir können nicht weit genug vordringen um die Messung durchzuführen.
Ein schwefelgelber Himmel über einem Wolkenmeer, die purpurroten Buchen, die weißen Nächte von Leningrad, die Glocken der Befreiung, einen orangefarbenen Mond über Piräus und eine rote Sonne, die über der Wüste aufgeht. Die unauslotbare Strahlkraft des Lebens, die sich uns offenbart, solange wir das Glück haben sie zu erfahren.
— Simone de Beauvoir